Die Pläne der Ampel – Anmerkungen zum Koalitionsvertrag

· Familienleben

Nach der Wahl und den Koalitionsverhandlungen samt Mitgliedervotum hat für die neue Regierung aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP nun die Phase des aktiven politischen Handelns begonnen. Unter der Überschrift „Mehr Fortschritt wagen“ haben sich die Ampel-Parteien in ihrem gemeinsamen Koalitionsvertrag große gesellschaftspolitische Ziele gesetzt. Modernisierung, Digitalisierung, Klimaschutz, Wohlstand und sozialer Zusammenhalt sind dabei als große Leitlinien der kommenden vier Jahre benannt. Auch wenn die Familien nicht in jedem dieser Bereiche direkt adressiert werden, werden viele Entscheidungen mindestens mittelbar auch in sie hineinwirken. Ganz klar gilt das für die familienpolitisch relevanten Abschnitte zu Familie, Kindern und Senioren, zur Bildung und zum Familienrecht, aber eben auch für Fragen der Besteuerung, der sozialen Sicherung, der zukünftigen Gestaltung der Arbeitswelt oder der Digitalisierung. Die Schnittmengen zum Alltagsleben von Familien sind in fast allen Bereichen groß, was nicht zuletzt daran liegt, dass Familien ein zentraler Bestandteil der Gesellschaft sind. Der Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP hat aufgrund der angestrebten, weitreichenden gesellschaftspolitischen Veränderungen eine umfassende familienpolitische Relevanz, die es im Auge zu behalten gilt.

1. Familie, Ehe und Zusammenleben

„Familien sind vielfältig. Sie sind überall dort, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen und brauchen Zeit und Anerkennung.“ So steht es im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung. Es ist richtig: Familien sind und leben vielfältig. In unterschiedlicher Zusammensetzung, mit verschiedenen Lebensvorstellungen und Herausforderungen sowie unter variierenden sozio-ökonomischen Bedingungen. Sie brauchen für ihre umfangreichen Aufgaben Zeit und Anerkennung, was oft viel zu kurz kommt. Die Erfahrungen in der Pandemie haben das für viele Familien mit Kindern, aber auch mit pflegebedürftigen Angehörigen noch einmal sehr klar und häufig auch recht schmerzhaft deutlich gemacht. Daher ist es die zentrale Aufgabe der Familienpolitik, alle Familien unabhängig von ihrem gewählten Lebensmodell im Blick zu behalten und bei ihren jeweils spezifischen Herausforderungen zu unterstützen. Die Pläne von SPD, Grünen und FDP erwecken allerdings an einigen Stellen den Eindruck einer gewissen Präferenz für ein Modell, in dem beide Elternteile möglichst vollzeitnah erwerbstätig sind und sich die Erziehungs- und Betreuungsaufgaben paritätisch teilen. So heißt es etwa im Kapitel Chancen für Kinder, starke Familien und beste Bildungschancen: „Wir unterstützen Eltern dabei, Erwerbs- und Sorgearbeit gerechter untereinander aufzuteilen.“ Im Kapitel Gleichstellung findet sich eine ähnliche Stelle: „Wir wollen die Familienbesteuerung so weiterentwickeln, dass die partnerschaftliche Verantwortung und wirtschaftliche Unabhängigkeit mit Blick auf alle Familienformen gestärkt werden.“ Sehr klar wird beim Thema Altersvorsorge die Ausweitung der Erwerbstätigkeit von Frauen eingefordert: „Die umlagefinanzierte Rente wollen wir durch die Erwerbsbeteiligung von Frauen (…) stärken.“ Der Familienbund unterstützt die Gleichstellung von Frauen und Männern in allen Lebensbereichen. Er sieht jedoch die zunehmende Ausrichtung der Familienpolitik an ökonomischen Überlegungen und am Leitbild der Doppelverdiener-Familie kritisch. Aus Sicht des Familienbundes sollen Frauen und Männer ihre Erwerbswünsche selbstverständlich umsetzen können – aber eben auch den eventuellen Wunsch nach einem reduzierten Arbeitsumfang oder nach einer Phase gänzlich ohne Erwerbsarbeit. Die Familienpolitik sollte deshalb darauf abzielen, Familien dabei zu unterstützen, das Modell zu leben, das jeweils am besten zu ihnen und ihren Alltagsherausforderungen passt. Es muss eine persönliche Entscheidung der Beteiligten bleiben, wie Aufgaben innerhalb der Familie verteilt und wie Erwerbsleben und familiäre Sorgearbeit für Kinder oder Ältere gestaltet werden. Dies erscheint umso dringender, als Studien, wie zuletzt der 9. Familienbericht, regelmäßig einen wachsenden Druck auf Familien konstatieren, der vor allem durch die Gleichzeitigkeit von Erwerbs- und Betreuungstätigkeiten und die gestiegenen Anforderungen in beiden Bereichen hervorgerufen wird. Um diesen Druck nicht noch zusätzlich zu erhöhen, plädiert der Familienbund daher für eine möglichst große Freiheit von Familien bei der Lebensgestaltung. Der Koalitionsvertrag fasst den Familienbegriff insgesamt sehr weit. Er sieht Familie „überall dort, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen“. In diesem Sinn formuliert der Koalitionsvertrag weitreichende Änderungspläne: „Wir werden das Institut der Verantwortungsgemeinschaft einführen und damit (…) zwei oder mehr volljährigen Personen ermöglichen, rechtlich füreinander Verantwortung zu übernehmen.“ Ausdrücklich geht diese Regelung über Paarbeziehungen hinaus und schließt damit Gruppen, Freundeskreise oder auch Formen der Nachbarschaftshilfe mit ein. Offen ist bisher, ob für Liebesbeziehungen ebenfalls eine nach oben offene Zahl an Beteiligten gelten soll. Auch die Ausweitung der sozialen Elternschaft auf bis zu vier Erwachsene soll im Familienrecht möglich werden. Es ist richtig, wenn der Familienbegriff die gelebte Vielfalt der Familien erfasst. Es sollte jedoch nicht der Eindruck einer begrifflichen Konturlosigkeit entstehen, da dann auch die Familienpolitik selbst ihren Sinn und Fokus zu verlieren droht. Natürlich sind neben Familien auch andere Gemeinschaftsformen längst Realität und dazu gehört nicht nur die oft zitierte Senioren-WG, sondern auch die Nachbarn, die sich regelmäßig umeinander kümmern oder die Gruppe Alleinerziehender, die sich wechselseitig bei der Kinderbetreuung unterstützen. Zudem leben immer mehr Paare zusammen, ohne sich für die Ehe zu entscheiden. Daher kann es durchaus hilfreich sein, für diese Formen der Bindung und des Zusammenlebens Rechtssicherheit in kritischen Belangen herzustellen. Mit dem neuen Institut der Verantwortungsgemeinschaft sollen Paar- und andere Beziehungen jenseits der Ehe in voraussichtlich verschiedenen Verbindlichkeitsstufen besser geregelt werden. Der Familienbund hält das für einen interessanten Gedanken, wenn dadurch mehr Verbindlichkeit und eine bessere Absicherung insbesondere der wirtschaftlich schwächeren Partner erreicht werden kann. Die konkrete Ausgestaltung dieser Gemeinschaften muss jedoch abgewartet werden, denn es sind noch viele Fragen offen, gerade was die Abgrenzung zur Ehe und zu den bisherigen Familienkonstellationen betrifft. Eine abschließende Lösung für die unzureichende Absicherung sogenannter faktischer Lebensgemeinschaften ist die Verantwortungsgemeinschaft allerdings nicht. Allen gesellschaftlichen Veränderungen zum Trotz weist der Familienbund darauf hin, dass in Deutschland die Mehrheit der Familien weiterhin in einer Ehe oder eingetragenen Lebensgemeinschaft lebt. Im Jahr 2018 galt das für immerhin 70 Prozent aller Familien mit Kindern unter 18 Jahren bzw. insgesamt gut 5,6 Millionen Familien.1 Eine gegenwartsorientierte Familienpolitik sollte auch für diese Lebensrealität offen sein und diese Familien im Blick behalten. Der Familienbund sieht Familien überall da, wo Menschen generationenübergreifend eine auf Dauer angelegte Verantwortungsbeziehung eingehen und füreinander sorgen. Familien sind gerade keine Wahlverwandtschaften, keine nur freiwillig gewählten, auf persönlichen Interessen beruhenden und bei Bedarf jederzeit aufkündbaren Beziehungen, sondern dauerhafte Bindungen mit Rechten und Pflichten in der Gegenwart und in der Zukunft. Aus diesem Grund sind für den Familienbund Familien und auch die Ehe besonders schützenswert.

2. Bildung

SPD, Grüne und FDP planen „ein Jahrzehnt der Bildungschancen“. Das ist auch aus Sicht des Familienbundes unbedingt notwendig. Der Bildungsbereich wurde in Deutschland in den zurückliegenden Jahrzehnten so kaputt gespart wie kaum ein weiterer. Falsche Annahmen zu sinkenden Schüler*innenzahlen durch den demographischen Wandel haben dazu ebenso beigetragen wie die Konsolidierung von kommunalen und Länderhaushalten zu Lasten der zukünftigen Generationen. Zahlreiche Studien belegen den Reformstau im Bildungsbereich sowie die nach wie vor erhebliche Abhängigkeit des Bildungserfolgs vom familiären Hintergrund. Die Pandemie hat die bestehenden Defizite in ganzer Breite schonungslos offen gelegt. Die Regierungsparteien wollen die Ausgaben im Bildungsbereich deutlich steigern und Unterstützung dort konzentrierten, wo sie am nötigsten ist. Dafür streben sie eine deutlich engere Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen an: „Die örtliche Umsetzungskraft der Schulträger, die Kultushoheit der Länder und das unterstützende Potential des Bundes wollen wir dafür zu neuer Stärke vereinen und eine neue Kultur in der Bildungszusammenarbeit begründen.“ Das kommt im Bildungsbereich beinahe einer Revolution gleich und ist definitiv positiv zu bewerten. Der Familienbund unterstützt die Idee einer engeren Kooperation zwischen den föderalen Ebenen im Bildungsbereich. Zwar ist der Bildungsföderalismus im Grundsatz richtig: Im Sinne des Subsidiaritätsprinzips sollten politische Entscheidungen möglichst bürgernah erfolgen und Kompetenzen nur dann auf übergeordnete politische Einheiten übertragen werden, wenn die kleinere Einheit an Grenzen stößt. Dennoch sollte der Bund mit verbindlichen Zielen, Mindeststandards und allgemeinen Weichenstellungen den Rahmen setzen für die grundlegende Bildungspolitik. Die engere Abstimmung und mindestens eine bessere Vergleichbarkeit der sechzehn teils sehr unterschiedlichen Bildungssysteme und -ergebnisse ist auch mit Blick auf die nötige Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse dringend geboten. Dies gilt umso mehr, führt man sich die wachsenden Anforderungen an die berufliche Mobilität vor Augen und die teils enormen Herausforderungen, vor denen Familien mit schulpflichtigen Kindern beim Umzug in ein anderes Bundesland oft stehen. Ziel der angestrebten Kooperation müssen die bestmöglichen Zukunftschancen von Kindern und Jugendlichen sein. Dabei sollte die Politik den Wettbewerbscharakter des Föderalismus wörtlich nehmen und ihn als geregeltes Experimentierfeld für neue Bildungswege und -ansätze nutzen. Aus diesen Feldversuchen müssen dann jedoch auch evidenzbasierte Schlussfolgerungen gezogen werden, die mit Blick auf die zu definierenden bundesweit einheitlichen Ziele in die Bildungspolitik aller Bundesländer einfließen. Zur gelingenden Umsetzung der gemeinsam zu definierenden Bildungsziele muss der Bund jedoch auch den Ländern die entsprechenden Mittel zur Verfügung stellen, die diese wiederum in vollem Umfang an die Kommunen als zuständige Schulträger weitergeben müssen. Der Koalitionsvertrag sieht auch den weiteren Ausbau von Ganztagsangeboten vor: „Mit Bund und Ländern werden wir uns über die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbildung und -betreuung und der qualitativen Weiterentwicklung verständigen und (…) einen gemeinsamen Qualitätsrahmen entwickeln“. Leider bleibt die konkrete Umsetzung noch offen. Die Absicherung einer hohen Qualität im Ganztag ist auch dem Familienbund sehr wichtig, ein gemeinsames Vorgehen von Bund und Ländern analog der regelmäßigen Bund-Länder-Gespräche über die Entwicklung von Qualitätsstandards für Kitas wäre auch im Schulbereich wünschenswert. Eines der drängendsten Themen mit Blick auf die Qualität sind die dafür nötigen Fachkräfte, die gegenwärtig in allen pädagogischen Bereichen fehlen. SPD, Grüne und FDP haben die Brisanz des Themas offensichtlich erkannt und widmen den Fachkräften immerhin einen eigenen Themenabschnitt. Die neue Regierung muss hier aber aktiver werden und klare Strategien entwickeln, wie in möglichst kurzer Zeit möglichst hoch qualifiziertes Personal für Kita und Schule ausgebildet werden kann. Dabei sei daran erinnert, dass, analog der Entwicklung bei den U3-Kitaplätzen, das reguläre Angebot von Ganztagskonzepten in der Regel eine zusätzliche Nachfrage schafft, so dass mit der Zeit mit wachsenden Anfragen zu rechnen ist. Noch ungeklärt scheint die Ausgestaltung des Ganztags als offenes oder verbindliches Angebot zu sein. Mit einem Ganztagangebot verlängert sich der Alltag von Schulkindern gerade im Grundschulbereich erheblich, so dass zwingend ausreichend frei gestaltbare Erholungszeiten vorgesehen werden müssen. Bei einigen Kindern wird es zu Kollisionen mit der individuellen Freizeitgestaltung kommen, etwa bei regelmäßigen Vereinsaktivitäten oder Musikunterricht. Auch die Vereinslandschaft insgesamt wird die Veränderungen zu spüren bekommen. Daran wird deutlich, wie wichtig die Ausgestaltung des Ganztags als qualitativ hochwertiges und vielfältiges Angebot mit einer hinreichenden Flexibilität und einer Öffnung für die Kooperation mit außerschulischen Anbietern ist. Nur unter diesen Voraussetzungen liegt im Ganztag die Chance, die Entwicklung von Fähigkeiten sowie das Ausleben persönlicher Neigungen von den privaten Förderungs- und Nachhilfemöglichkeiten des Elternhauses zu lösen und damit den Bildungserfolg und das Bildungserleben unabhängiger von den sozio-ökonomischen Umständen der Familien zu machen. Der Familienbund hält es für ein großes Versäumnis, dass der Koalitionsvertrag die Rolle der Eltern für die Bildung ihrer Kinder nicht berücksichtigt. Eine gute Erziehungs- und Bildungspartnerschaft zwischen pädagogischen Fachkräften und Eltern ist zentral. Ohne eine hinreichende Einbindung der Eltern werden auch gut durchdachte staatliche Maßnahmen zur Bildung und Chancengleichheit ihr Ziel verfehlen. An einigen Stellen liest sich das Papier, als werde Bildung hauptsächlich als Vorbereitung einer Erwerbstätigkeit verstanden. Dem möchte der Familienbund widersprechen. Bildung ist ein wesentlicher Faktor für die späteren Zukunfts- und Berufschancen, aber sie sollte immer auch darüber hinausweisen und in erster Linie der freien Entfaltung der Persönlichkeit dienen. Sie hat in dieser Funktion vor allem begleitenden und beratenden Charakter, in Schule, Ausbildung oder Studium ebenso wie in der Erwachsenen- und der Familienbildung, die leider keinen Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden hat. Die bereits mehrfach angedachte Reform des BAföG wollen SPD, Grüne und FDP in Angriff nehmen. „Wir richten das BAföG neu aus und legen dabei einen besonderen Fokus auf eine deutliche Erhöhung der Freibeträge. Außerdem werden wir u.a. Altersgrenzen stark anheben, Studienfachwechsel erleichtern, die Förderhöchstdauer verlängern, Bedarfssätze auch vor dem Hintergrund steigender Wohnkosten anheben (…).“ Freibeträge und Bedarfssätze sollen zudem regelmäßig angepasst werden. Für viele Studierende ist das eine erhebliche finanzielle Erleichterung, die sich im Alltag auszahlen wird. Offen bleibt zur Zeit noch, welche Folgen die geplante direkte Auszahlung des Garantiebetrags im Rahmen der geplanten Kindergrundsicherung ab Eintritt der Volljährigkeit für die finanzielle Gesamtlage von Studierenden und Auszubildenden hat. Insgesamt ist im Bildungsteil des Koalitionsvertrages häufig von zusätzlichen oder fortgesetzten Programmen, Förderangeboten und Aktionsplänen die Rede. Aus Sicht des Familienbundes wäre es wichtig, all diese Maßnahmen in reguläre Politik zu überführen. Sonderprogramme führen häufig zu erheblichem bürokratischen Aufwand und begünstigen Einrichtungen nicht unbedingt nach dem wirklichen Bedarf. Das hat sich auch beim Digitalpakt gezeigt, den die Ampel-Parteien nun ausweiten und neu konzipieren wollen. Der zentrale Grundsatz der Bildungspolitik sollte lauten: Jede öffentliche Bildungseinrichtung – nicht nur Leuchtturm-Einrichtungen oder speziell geförderte Brennpunktschulen – muss ein vielfältiges, pädagogisch hochwertiges Unterrichts- und Ganztagsprogramm anbieten. Auf diese Weise lässt sich das Versprechen von Chancengleichheit am ehesten verwirklichen.

Das gesamte Dokument finden Sie hier als pdf.

Ulrich Hoffmann, Matthias Dantlgraber, Ivonne Famula

Präsident, Bundesgeschäftsführer, wissenschaftliche Referentin des Familienbundes