Gemeinsame Stellungnahme des Familienbundes der Katholiken und des Deutschen Familienverbandes zur Vorlage beim Bundesverfassungsgericht

· Stellungnahmen · Familie und Recht

in den Verfahren

  • Verfassungsbeschwerde der Frau xxx und des Herrn xxx (1 BvR 2824/17)
  • Vorlagebeschluss des Sozialgerichts Freiburg (1 BvL 3/18)

 

Stellungnahme als PDF zum Download

 

Die vorliegende Stellungnahme schließt sich inhaltlich voll der Argumentation der Bevollmächtigten Prof. Dr. Thorsten Kingreen und Dr. Jürgen Borchert in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren „xxx“ an.1 Sie schließt sich insbesondere auch vollumfänglich der Argumentation in der Verfassungsbeschwerde „xxx“ an. Auf die entsprechenden Akten wird verwiesen.

 

Diese Stellungnahme möchte darüber hinaus aufzeigen,

 

  1. dass das Abstellen auf den Zwei-Generationenvertrag zwischen Erwerbstätigen und Rentenbezieher_innen in der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) die Lebensleistung von Eltern, insbesondere von Müttern, ignoriert und zu einer eklatanten Benachteiligung von Frauen mit Kindern in der GRV führt (I., S. 2 ff.);

 

  1. dass die Verbeitragung des Kinderexistenzminimums in der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung eine wesentliche Ursache für das seit Jahren anhaltend hohe Niveau an Kinderarmut in Deutschland ist (II., S. 10 ff.).

 

Am Ende der Stellungnahme erfolgt eine Zusammenfassung der gemeinsamen Position des Familienbundes der Katholiken und des Deutschen Familienverbandes („Abschließende und zusammenfassende Bemerkungen“, S. 21 ff.).

 

I. Die Benachteiligung der Frauen in der Alterssicherung

Das Rentenrecht ist der Ort in der sozialrechtlichen Landschaft, wo die Folgen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung unverstellt durchschlagen. Obwohl das Sozialversicherungsrecht angetreten ist, um den ungerechten Verteilungswirkungen des Marktes entgegenzusteuern, bewirkt das im Rentenrecht weitestgehend realisierte Äquivalenzprinzip von Beiträgen und Leistungen, dass sich jede untertarifliche Eingruppierung, jede Erwerbsunterbrechung oder Teilzeittätigkeit wegen Kindererziehung sowie die Zeiten einer geringfügigen Beschäftigung für Frauen im Alter leistungsmindernd auswirken. Wenn mittelbare Diskriminierung bedeutet, dass dem Anschein nach neutrale Vorschriften einen wesentlich höheren Anteil der Angehörigen eines Geschlechts benachteiligen, ohne dass dies durch sachliche, nicht auf das Geschlecht bezogene Gründe gerechtfertigt werden kann, dann wäre es naheliegend, dass ein Rentenversicherungssystem, das sich an dem Leitbild des durchgängig beschäftigten männlichen Arbeitnehmers orientiert, der nach 45 Versicherungsjahren zum jeweiligen Durchschnittsentgelt ab dem 65. Lebensjahr eine durchschnittliche Rente enthält, Frauen als Gruppe in ihren Lebensentwürfen systematisch benachteiligt.2

Während die Erwerbsbiographien der Männer durch die Geburt von Kindern weitgehend unberührt bleiben, weist die große Mehrheit aller Frauen Phasen der Kindererziehung mit weitreichenden Folgen für die Alterssicherung auf.3 So beziehen heutige Rentnerinnen im Durchschnitt um 53 % geringere eigene Alterssicherungsleistungen als Rentner. Die geschlechtsspezifische Rentenlücke, auch Gender Pension Gap, ist in Deutschland unter allen OECD-Staaten am größten. Unter Einbeziehung der betrieblichen und privaten Sicherung beziehen Frauen im Durchschnitt ein um 46 % geringeres Alterseinkommen. Im OECD-Durchschnitt beträgt die Lücke 27 %. Am geringsten ist der Gender Pension Gap in Estland (3 %), in der Slowakei (7 %) sowie in Dänemark (10 %).5

Dies reflektiert den Umstand, dass das Äquivalenzprinzip zwischen monetären Sozialbeiträgen auf der einen und Renten(anwartschaften) auf der anderen Seite in Deutschland besonders stark ausgeprägt ist und der soziale Ausgleich seit den 1990er Jahren sukzessive zurückgenommen worden ist.6

Dieser Befund muss jedoch noch differenziert werden. Denn offensichtlich verläuft der Graben nicht (mehr) zwischen Männern und Frauen, sondern zwischen Müttern und allen anderen Versicherten, wie sich anhand der Zahlen des Gesamt-Netto-Einkommens der gegenwärtigen Rentenbezieherinnen und Rentenbezieher zeigt: Danach verfügen ledige Frauen über ein Nettoeinkommen von 1.388 € und ledige Männer über eines in Höhe von 1.475 €. Der Unterschied zwischen diesen beiden Gruppen ist mithin relativ gering. Unabhängig vom Familienstand beziehen Frauen ohne Kinder ein Nettoeinkommen im Alter in Höhe von 1.383 €, Frauen mit vier und mehr Kindern ein Nettoeinkommen in Höhe von 1.043 €.7 Jedes zusätzliche Kind beeinträchtigt die Versorgung im Alter weiter. Es ist kein Zufall, dass in allen Verfahren, zu denen Stellung genommen werden soll, Familienkonstellationen mit mehr als zwei Kindern betroffen sind.

Spiegeln die Daten der heutigen Rentnerinnen und Rentner die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die Erwerbsbeteiligung von Frauen in den 1950er bis 1990er Jahre wider, so lässt sich ein grundlegend ähnlicher Zustand auch für die Gegenwart nachweisen: Gerade kinderlose Frauen sind am seltensten in einfachen und mittleren Positionen und gleichzeitig am häufigsten in gehobenen Positionen tätig. 30 bis 44-jährige Frauen ohne Kinder können sich gegenüber gleichaltrigen Männern und Müttern beruflich besonders gut positionieren. Dort bestehen fast keine Rückstände mehr gegenüber Männern.8

Die Kindererziehungszeiten, 3 Jahre pro Kind zu dem Entgeltpunkt eines durchschnittlich Versicherten, können einen Teil der kindbedingten Benachteiligung von Müttern im Rentenrecht ausgleichen, vor allem für diejenigen Frauen, die spätestens nach der maximal vorgesehenen Erwerbsunterbrechung von drei Jahren wieder eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufnehmen.9 Dies gilt aber nicht für die Mütter von mehr als zwei Kindern, die durch die Kindererziehung besonders viel für das Umlageverfahren leisten. Auch Alleinerziehende schaffen es häufig nicht, ihre Erwerbstätigkeit in der erforderlichen Weise auszuweiten, wie der verbreitete Bezug von SGB II-Leistungen zeigt.10 Das deutsche Alterssicherungssystem in seiner heutigen Gestalt setzt auf die Berufstätigenehe mit ein bis zwei Kindern. Eltern mit davon abweichenden Erziehungskonstellationen müssen Nachteile in Kauf nehmen.

Es ist auch keinesfalls zutreffend, dass die Benachteiligung von Müttern in den Alterssicherungssystemen nur noch ein Übergangsproblem darstellt, das sich allein durch Zuwarten auflösen wird, weil in absehbarer Zeit auch Frauen mit Kindern – bis auf wenige Phasen im Lebenslauf – in Vollzeit berufstätig sein werden.11 Abgesehen davon, dass die Hausfrauen- und die Zuverdienerinnenehe auch weiterhin von der Freiheit der ehelichen Arbeitsteilung nach Art. 6 GG erfasst sind, lässt auch im Rechtstatsächlichen nichts auf eine anstehende grundsätzliche Änderung schließen: 

Zuletzt hatte man sich mit der Reform des Unterhaltsrechts im Jahr 2008 Verhaltensänderungen auch für bestehende Ehen erhofft, weil sich seitdem Frauen nicht mehr auf die Ernährerfunktion der Ehe verlassen können sollten. Elternteile erhalten danach für sich Betreuungsunterhalt nur bis zum dritten Geburtstag des jüngsten Kindes. Danach wird von ihnen eine Vollberufstätigkeit erwartet. Die Reform von 2008 war parteiübergreifend auf große Zustimmung gestoßen.12 Mit ihr sollten egalitäre Elternbeziehungen durchgesetzt und das neue Leitbild der vollberufstätigen Eltern befördert werden. Dieser Edukationseffekt ist jedoch nicht eingetreten. Eine Studie des RWI weist nach, dass sich die Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen, die vor und nach der Reform geheiratet haben, nicht verändert hat. Das gleiche gilt für die eheliche Arbeitsteilung. Eher haben sich die ostdeutschen Frauen, die zuvor lange eine Vollzeittätigkeit innehatten, an das westdeutsche Teilzeitmodell angenähert.13

Als Argument gegen die Berücksichtigung der Kosten für Kinder auf der Beitragsseite wird häufig die Anerkennung der Kindererziehungszeiten auf der Leistungsseite angeführt, wonach der Gesetzgeber in den letzten Jahren genügend getan habe, um Familien zu unterstützen. Erstens ist der Barwert, den ein zusätzliches Kind für die Rentenversicherung darstellt, sehr viel höher als der Wert der Kindererziehungszeiten, die für einen Elternteil gutgeschrieben werden. Die Beiträge, die ein im Jahr 2000 geborenes und in jeder Hinsicht durchschnittliches Kind im Laufe seines Lebens an die Rentenversicherung zahlen wird, übersteigen die dadurch erworbenen Rentenansprüche um rund 77.200 Euro (inklusive der Effekte aller Nachfahren: 158.300 Euro)14:

Grafik 1 Die Fiskalische Bilanz eines Kindes (*2006)

Im Übrigen wird übersehen, dass die gegenwärtigen rechtlichen Regelungen der Anerkennung von Kindererziehungszeiten dazu führen, dass „nicht jedes Kind gleich viel wert ist“. Vielmehr schwanken die Werte je nach individueller Erwerbsbiografie in großer Bandbreite.15

Zweitens wird bei dem Argument, der Gesetzgeber habe in den letzten Jahren große Verbesserungen bei den Familienleistungen der Rentenversicherung vorgenommen, auch regelmäßig übersehen, dass gleichzeitig die Transferzahlungen für die abgeleitete Sicherung der Frauen seit Mitte der 1980er Jahre auf breiter Front gesunken sind:

Die Regelungen der abgeleiteten sozialen Sicherung der Frau (Witwenrente, beitragsfreie Mitversicherung) und des Ehegattensplittings können interpretiert werden als monetäre Ressourcen, die die Gesellschaft für Kontexte zur Verfügung gestellt hat, in denen Sorge für andere stattfindet. Von dieser Warte aus kann dann nämlich wahrgenommen werden, dass durch die zunehmende Pluralisierung der Lebensformen (Alleinerziehende, unverheiratete Eltern sowie Ehegatten ohne Kinder) und die steigende Erwerbstätigkeit von Müttern die materiellen Kompensationsformen zugunsten nicht-marktgängiger Tätigkeiten immer mehr ins Leere laufen.16

Die unbedingte Witwenrente, die bis 1986 ohne Anrechnung von eigenem Einkommen regelmäßig von allen Frauen nach dem Tod des Ehemannes bezogen wurde, war eine wichtige Transferleistung zugunsten der Hausfrauenehe. Seit dem Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeitengesetz (HEZG) vom 11. Juli 1985 erhalten sowohl Witwer als auch Witwen nach dem Tod des versicherten Ehegatten eine Hinterbliebenenrente, auf die jedoch das eigene Einkommen angerechnet wird.17 Nach 30 Jahren Diskussion über die Verbesserung der Alterssicherung von Frauen ist es damit ist es zu einer beispiellosen Umverteilung von Frauen hin zu Männern gekommen – Reformen zugunsten einer eigenständigen Sicherung von Frauen sind seitdem kein Thema mehr.18 Je mehr Frauen erwerbstätig sind und eigene Rentenanwartschaften begründen, desto mehr treten die eigenen Versichertenrenten der Frauen peu à peu an die Stelle der ehemaligen Hinterbliebenenrenten. 1984 wurden außerdem Frauen nach der „Familienpause“ weitestgehend vom Bezug der Erwerbsunfähigkeitsrente ausgeschlossen.19 Außerdem wurde der vorzeitige Rentenbezug für Frauen ab dem 60. Lebensjahr abgeschafft, der damit begründet worden war, dass sie für die Doppelbelastung in Familie und Beruf entschädigt werden sollten.20 Auch dies entspricht einem erheblichen geldwerten Vorteil, den die Versicherungsgemeinschaft fortan zu Lasten der Frauen einsparen konnte. Heute müssen Frauen (wie Männer) einen um 5 Jahre vorgezogenen Rentenbeginn mit Rentenabschlägen in Höhe von 18 % „bezahlen“ und zwar für die Dauer ihrer gesamten restlichen Lebenszeit. Es wurde berechnet, dass allein diese letzte Verschlechterung in ihren finanziellen Auswirkungen die Wirkung der Anrechnung von drei Jahren Kindererziehungszeiten durch das RRG 199221 vollständig kompensiert hat.22 Hinzu kommt ferner das Auslaufen der Rente nach Mindestentgeltpunkten, die zu einer Aufwertung von vor 1992 begründeten Rentenanwartschaften führte, von der ebenfalls in hohem Maße Frauen profitiert haben.23

Eine ähnliche Entwicklung ist für die sog. beitragsfreie Familienversicherung im Rahmen der GKV zu verzeichnen, die entfällt, wenn ein eigenes Einkommen in Höhe von monatlich über 450 Euro bezogen wird.24 Durch die gestiegene Erwerbsbeteiligung von Ehefrauen muss sich die GKV immer weniger an den Kosten der Krankenversicherung kindererziehender Personen beteiligen. Diese ist faktisch nur noch eine Mitversicherung für die Mütter sehr junger Kinder.25

Wenn auf den Ausbau der Familienförderung auf der Leistungsseite hingewiesen wird, dann müssen – der Vollständigkeit halber – auch die faktischen Einsparungen bei der abgeleiteten Sicherung von Frauen in den Blick genommen werden. Diese basieren auf rechtlichen Änderungen zu Lasten von Frauen, aber auch auf Veränderungen der Lebensläufe, die die Bestimmungen der abgeleiteten Sicherung faktisch zunehmend ins Leere laufen lassen. Abgeleitete Leistungen werden durch selbst erworbene ersetzt – eine materielle Besserstellung ist damit allerdings oft nicht verbunden!

Die Entwicklung, dass im Sozialrecht immer weniger an das Geschlecht als Unterscheidungskriterium angeknüpft werden kann, sondern an die Elternschaft, hat das BVerfG mit seiner Rechtsprechung zur Pflegeversicherung aufgegriffen. Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass das BVerfG in seinen maßgeblichen Entscheidungen zum familiären Existenzminimum26, zu den Betreuungs- und Erziehungsfreibeträgen27 und zur Pflegeversicherung28 das neue Gerechtigkeitsdefizit nicht frauenspezifisch definiert.29 Es geht nicht mehr darum, die Lebenslage der Hausfrau und Mutter sozialpolitisch umfassend zu kompensieren, wie es bei der abgeleiteten sozialen Sicherung der Fall war. Verfassungsrechtliches Differenzierungskriterium ist nicht das Geschlecht, sondern die Elternschaft – mit dem Ziel, den Wert der Erziehung von Kindern in den Umlageverfahren zu bewerten („konstitutive Leistung“- BVerfGE 102, S. 242 ff.). Eine bestimmte Familienform wird damit nicht gefördert. Es wird vielmehr an die Unterhaltspflicht der Eltern angeknüpft, deren finanzieller Spielraum durch die Berücksichtigung der Kinderkosten im Steuerrecht und die Beitragsreduktion in der Sozialversicherung vergrößert werden soll.

 

II. Kinderarmut und Sozialversicherungsbeiträge

Nach neueren Angaben der Bundesregierung haben am 31. Dezember 2016 3.669.000 sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigte in Deutschland ein Entgelt von weniger als 2.000 Euro Brutto erzielt. Das entsprach 17,7 % aller Vollzeitbeschäftigten. Die Werte für Westdeutschland lagen bei 14,7 %, die für Ostdeutschland bei 31,2 %30. Gerade im Niedriglohnbereich ist es aber nicht möglich, Kinder vom selbst erzielten Einkommen zu unterhalten. Dies ist auch in der Statistik der BA für Arbeit zu erkennen, da Paare mit Kindern, aber auch Alleinerziehende häufiger als Alleinstehende zu den Aufstockern gehören, obwohl sie höhere Arbeitszeiten und höhere Stundenlöhne als diese aufweisen31.

Auch der Mindestlohn von 8,84 Euro (2018) oder 9,19 Euro (2019) brutto kann an der Kinderarmut nichts ändern, da er so gestaltet ist, dass er bei einer Vollzeittätigkeit gerade einen Alleinstehenden unabhängig von staatlicher Grundsicherung macht. Von ihm lassen sich die Ausgaben für ein Kind nicht bestreiten. Waren die Löhne bis in die 1970er Jahre hinein noch so konzipiert, dass von einem Einkommen regelmäßig eine vier- bis fünfköpfige Familie ernährt werden konnte, so ist dies heute nicht mehr der Fall. Heute sind mindestens 1,5 Einkommen erforderlich, um verlässlich über der Einkommensrisikogrenze zu liegen. Mit dem Elterngeld und dem Ausbau der Kinderbetreuung ab dem 13. Lebensmonat eines Kindes wird dieses neue Familienmodell auch besonders gefördert. Eltern mit einem oder zwei Kindern leben vermehrt dieses Leitbild, indem sie beide an der Erwerbstätigkeit partizipieren und sich – idealerweise – Haushalt und Kindererziehung partnerschaftlich teilen. Offensichtlich ist aber, dass es für bestimmte Familienkonstellationen sehr schwer ist, dieses neue Leitbild zu leben: Dies sind zum einen Alleinerziehende, die neben der Erziehung der Kinder nach geltendem Unterhaltsrecht voll erwerbstätig sein sollen32. Dies gilt aber auch für Familien mit mehr als zwei Kindern, in denen sich häufig ein Elternteil vollständig der Erziehung der Kinder widmen möchte oder muss.

Der demografische Wandel in Gestalt der fehlenden Geburten seit Mitte der 1970er Jahre hat u.a. dazu geführt, dass die Arbeitslöhne typischerweise Kosten für Kinder nicht mehr enthalten, weil nicht mehr im Regelfall davon ausgegangen werden kann, dass Erwerbstätige unterhaltspflichtige Kinder haben. In Gestalt einer geringer besetzen Erwerbstätigengeneration und der stark besetzten Generation von Leistungsbeziehern hat die Alterung der Gesellschaft aber auch dazu geführt, dass die Sozialversicherungsabgaben seit den 1960er Jahren enorm gestiegen sind – von 24,4 % im Jahr 1960 auf 39,75 % im Jahr 2018. Beides: die fehlenden Familienlöhne und die hohen Sozialabgaben machen sich vor allem bei Eltern im Niedriglohnsektor bemerkbar.

Im Fall von Familien mit niedrigen Einkommen schlägt eine weitere Problematik besonders zu Buche, die häufig übersehen wird. In Deutschland werden die Kinderkosten privat getragen, während die soziale Absicherung der Alten, Arbeitslosen, Kranken und Pflegebedürftigen kollektiv über Sozialabgaben der Beschäftigten organisiert ist. Auch hier bewirkt der demografische Wandel eine Verschärfung der Lage. In den 1950er und 1960er Jahren war der Regelfall, dass Erwachsene Kinder bekamen, bis auf die 8 % einer Generation, die biologisch kinderlos blieben. Zahlenmäßig groß besetzte junge und erwerbsaktive Generationen standen einer zahlenmäßig schwach besetzten Generation im Ruhestand gegenüber. Die Leistungen der gesetzlichen Sozialversicherungen waren gering, die Sozialversicherungsbeiträge niedrig. Heute stehen wenige Beitragszahler immer mehr Anspruchsberechtigten gegenüber, die ihre Renten auch länger beziehen, als dies in den 1950er und 1960er Jahren der Fall war33. Die Zahl der kinderlosen Erwachsenen und die der Ein-Kind-Familien ist gestiegen, die Sozialversicherungsbeiträge sind hoch.

Eltern und Kinderlose werden bei der Beitragszahlung gleichbehandelt: Sie zahlen, mit Ausnahme der Pflegeversicherung, gleich hohe Beiträge wie Kinderlose, obwohl sie doch in zweifacher Hinsicht zu den Umlageverfahren beitragen: durch ihre monetären Beiträge und durch die Kindererziehung34. Dies hat weitreichende Folgen für die Einkommenssituation von Familien. Der Deutsche Familienverband und der Familienbund der Katholiken erstellen in jedem Jahr einen Horizontalen Vergleich (vgl. die Abbildungen auf S. 13 f.) und zeigen damit, dass im deutschen Steuer- und Abgabensystem von einem durchschnittlichen jährlichen Bruttoeinkommen von 30.000 Euro eine vierköpfige Familie ihr steuerliches Existenzminimum nicht decken kann35.

Grafik 2 Horizontaler Vergleich 2018 - Was am Monatsende "übrig" bleibt

Der Horizontale Vergleich zeigt, wie Haushalte im Steuer- und Abgabensystem mit demselben Brutto-Einkommen auskommen. Dabei ist es vollkommen gleichgültig, ob dieses Einkommen durch einen Verdiener oder zwei Verdiener erzielt wird. Ein Jahresbrutto-Gehalt von 30.000 Euro ist auch keines im Bereich des Niedriglohnsektors. Einstiegsgehälter von in Vollzeit beschäftigten Sozialpädagoginnen in dieser Höhe lassen sich durchaus finden. Es zeigt sich deutlich, dass in diesem Einkommensbereich vor allem die Beiträge zur Sozialversicherung die größten Lücken schlagen und für den Keil zwischen Brutto und Netto verantwortlich sind.

Ein weiteres Beispiel, das für viele Familien der Mittelschicht zutreffen wird, ist ein höherer Einkommensbereich, in dem der eine Ehegatte 30.000 Euro und der andere Ehegatte 20.000 Euro Brutto-Jahresgehalt bezieht (insgesamt 50.000 Euro Brutto-Jahresgehalt). Auch hier zeigt der horizontale Vergleich die Verteilungswirkungen des geltenden Steuer- und Sozialabgabensystems:

Grafik 3 Horizontaler Vergleich 2018 - Was am Monatsende "übrig" bleibt

Hier ist nun zwar bis zum dritten Kind das steuerliche Existenzminimum gewahrt, aber der Vergleich zum ledigen und kinderlosen Single weist auf gravierende Gerechtigkeitslücken hin – zumindest, wenn man in Rechnung stellt, dass Kinderlose im Alter nur deshalb eine Alters- und Gesundheitsversorgung erhalten, weil anderer Leute Kinder dann Sozialversicherungsbeiträge zahlen. Die Sozialversicherung ist über die Jahre zu einer Versicherung gegen Kinderlosigkeit geworden, ohne dass Kinderlose bislang hierfür einen Extrabeitrag entrichten müssen. Der Horizontale Vergleich zeigt sehr deutlich, dass es durch die Beitragsgestaltung der gesetzlichen Sozialversicherung zu Einkommensüberhängen bei kinderlosen Erwachsenen auf der einen Seite und zu Einkommenslücken bei Familien mit Kindern auf der anderen Seite kommt, die dafür verantwortlich sind, dass Kinder nicht optimal gefördert werden können. Hier ist eine der wesentlichen Ursachen gefunden für den überraschenden Befund, dass die Gesellschaft insgesamt immer weniger Kinder zu versorgen hat, die Erwerbstätigkeit von Müttern über die Jahre gestiegen sowie die Arbeitslosigkeit in den letzten 10 Jahren erheblich gesunken ist und dennoch praktisch keine Erfolge im Kampf gegen die Kinderarmut erzielt worden sind.

Für die soziale Pflegeversicherung hatte das BVerfG im Jahr 2001 ausdrücklich verlangt, dass ein zwischen Eltern und kinderlosen Personen vorzunehmender Ausgleich zu erfolgen habe, und zwar durch Regelungen, die die Elterngeneration während der Zeit der Betreuung und Erziehung entlasten, „denn die Beiträge, die von der heutigen Kindergeneration später im Erwachsenenalter auch zugunsten kinderloser Versicherter geleistet werden, basieren maßgeblich auf Erziehungsleistungen ihrer heute versicherungspflichtigen Eltern, die hiermit verbundene Belastung der Eltern tritt in deren Erwerbsphase auf - sie ist deshalb auch in diesem Zeitraum auszugleichen”36. Eine Freistellung des Existenzminimums von Kindern auf der Beitragsseite von Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung würde den finanziellen Spielraum von Familien erheblich erhöhen.

Zwar existiert eine Vielzahl von familienpolitischen Leistungen, aber hier findet kein Transfer von Kinderlosen zu Eltern statt. Dies wäre lediglich der Fall, wenn diese Leistungen aus einer Sondersteuer für Menschen bestritten würde, die gegenwärtig keine Unterhaltspflichten für Kinder tragen37. Derzeit finanzieren Eltern die Leistungen über ihre Einkommens- und Verbrauchssteuern selbst mit38. Einer Kompensation über Steuern werden auch zunehmend Grenzen gesetzt sein, weil in einer alternden Gesellschaft viele andere Bedarfe aus dem Steuereinkommen zu bestreiten sein werden: Seien es steigende Kosten im Bereich der Pflegebedürftigkeit39, neue Leistungen für Menschen mit Behinderungen40, der Kampf gegen Altersarmut, die Integration von Flüchtlingen etc. – und dies sind lediglich die steigenden Ausgaben im Bereich des Sozialrechts.

Der Horizontale Vergleich zeigt, dass Eltern die Kosten für Kinder privat nur tragen können, wenn sie mindestens durchschnittlich oder besser verdienen. Wenn hier nicht gegengesteuert wird, indem das Existenzminimum von Kindern bei der Verbeitragung zur Sozialversicherung freigestellt wird und so die Einkommen von Eltern entlastet werden, wird die Kinderarmut weiter steigen: Durch den fortschreitenden demografischen Wandel werden die absehbaren Steigerungen bei den Sozialversicherungsabgaben den Familien mit unterhaltspflichtigen Kindern ökonomisch immer weiter das Wasser abgraben. Die Folgen des Aufwachsens in Armut von Kindern und Jugendlichen sind bekannt. Es kann als gesichert gelten, dass frühe Armut sich deutlich auf das am Ende der Sekundarstufe 1 erreichte Schulbildungsniveau auswirkt. Arme Kita-Kinder beenden die Schule zu 48 % als Hauptschüler_innen oder verlassen die Schule ohne Abschluss und gehören damit zu den Bildungsverlierern mit der Aussicht, lediglich im Bereich der prekären Beschäftigung Arbeit zu finden41. Die Kinderarmutsforschung belegt, dass alle non-formalen und informellen Bildungs-, Kultur- und Freizeitangebote, die mit Kosten verbunden sind, vom Kleinkindalter an von armen jungen Menschen wesentlich seltener in Anspruch genommen werden. Dadurch verengt sich die Kinderwelt – also die Erlebnis-, Erfahrungs- und Bildungsmöglichkeiten in der Umwelt der Kinder42. Eine neue Studie aus dem Jahr 2018 stellt fest, dass gerade im Bereich der Sozialen Teilhabe große Defizite bei armen Kindern und Jugendlichen bestehen: Drei Viertel der Kinder, die dauerhaft gesichert aufwachsen, waren zum Beobachtungszeitpunkt Mitglied in einem Verein (75,1 %). Im Gegensatz dazu sind nur 37,1 Prozent der Kinder, die dauerhaft nicht gesichert aufgewachsen und damit permanent von Armut betroffen sind, Mitglied in einem Verein. Ähnlich verhält sich der Anteil bei den Kindern, die in Familien leben, die dauerhaft Leistungen nach dem SGB II beziehen. Von ihnen sind lediglich 39,5 Prozent Mitglied in einem Verein oder einer Gruppe. Bei den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen von Jugendlichen nach Einkommensverlaufsmustern steht bei den dauerhaft gesicherten und den temporär nicht gesicherten Sport und Bewegung mit 81,2 % und 90,9 % an erster Stelle. Bei den Jugendlichen im dauerhaften Leistungsbezug zählen hingegen nur 38,8 % Sport und Bewegung zu ihren beliebtesten Freizeitbeschäftigungen43.

Es kann nicht hingenommen werden, dass die Verteilungswirkungen unseres Steuer-, vor allem aber Sozialversicherungssystems die finanziellen Grundlagen von Lebensgemeinschaften mit Kindern untergraben. Insbesondere das Beitragsrecht der Sozialversicherung ist derzeit dafür verantwortlich, dass eine erhebliche Gruppe von Kindern und Jugendlichen suboptimal aufwächst, mit schwerwiegenden Folgen für ihre gesamte Bildungs- und Erwerbsbiographie. Um die unterschiedliche Leistungsfähigkeit von Eltern auch im Sozialversicherungsrecht zu berücksichtigen, muss mindestens ein Beitrag in Höhe des steuerlichen Existenzminimums von Kindern von der elterlichen Beitragsbemessungsgrundlage zur Sozialversicherung in Abzug gebracht werden. Dies ist verfassungsrechtlich zwingend, weil Ungleiches nicht gleich, sondern seiner Eigenart entsprechend behandelt werden und die Unterhaltspflicht der Eltern in das Sozialversicherungssystem eingestellt werden muss. Außerdem verwirklicht es in besonderer Weise das familienbezogene Neutralitätsgebot des Art. 6 Abs. 1 GG: So kann dieser für alle gleiche Betrag pro Kind bei berufstätigen Eltern je zur Hälfte von deren Einkommen abgezogen werden mit der Folge, dass für beide die Nettoeinkommen steigen. Ein Alleinverdiener könnte den Betrag zur Gänze geltend machen. Alleinerziehende, die vom anderen Elternteil keinen Kindesunterhalt erhalten, was immerhin für die Hälfte der unterhaltsberechtigten Kinder der Fall ist44, könnten ebenfalls den gesamten Betrag in Abzug bringen, was ihr Einkommen erheblich aufwerten würde. Schließlich würde auch keine unsoziale progressive Entlastungswirkung eintreten, da in allen Fällen der gleiche Betrag vom zu verbeitragenden Einkommen abgezogen würde. Die sinkenden Sozialversicherungsbeiträge für Eltern müssten von denjenigen Versicherten kompensiert werden, die gegenwärtig keine Unterhaltspflichten für Kinder tragen.

Diese Lösung ist auch alles andere als eine „Strafabgabe für Kinderlose“, sondern berücksichtigt lediglich die unterschiedliche Leistungsfähigkeit von Menschen mit und ohne Unterhaltspflichten gegenüber Kindern. Kinderlosigkeit ist demnach keine moralische, sondern eine sozioökonomische Kategorie, die auch auf diejenigen zutrifft, deren Kinder erwachsen sind und auf eigenen Beinen stehen. Der Ausgleich unter den Sozialversicherten würde die ökonomischen Folgen der Kinderlosigkeit ein Stück weit den Kinderlosen zuordnen. Im derzeitigen System werden diese Kosten durch gleichmäßige Leistungskürzungen auf alle umgelegt – auch auf diejenigen, die für den demografischen Wandel keine Verantwortung tragen.

Die Freistellung des kindlichen Existenzminimums auf der Beitragsseite von Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung und die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten auf der Leistungsseite der Rentenversicherung schließen sich nicht aus, sondern verhalten sich komplementär zueinander, um die Benachteiligung Kindererziehender in jeweils unterschiedlichen Lebensphasen zu kompensieren: Einmal während der Zeit der Erziehung, um die eingeschränkte Leistungsfähigkeit von Eltern zu berücksichtigen und Kinderarmut zu vermeiden. Zum zweiten für die Zeit des Rentenbezugs, um die Erziehungsleistung von Eltern für das Umlageverfahren zu bewerten und insbesondere die Renten von Müttern zu erhöhen. Das Äquivalenzprinzip muss endlich vom Kopf auf die Füße gestellt werden. In einem Umlageverfahren hieße dies, dass eine Rente in durchschnittlicher Höhe sowohl die Entrichtung von monetären Beiträgen als auch die Erziehung von durchschnittlich zwei Kindern voraussetzt45. Es würde sich anbieten, an dem Begriff der „Lebensleistung“ anzuknüpfen, den das BVerfG in seiner Entscheidung zur Überleitung der DDR-Renten verwandt hat46. Die monetären Beiträge der Versicherten sind erforderlich, um den von der Elterngeneration erhaltenen Unterhalt abzugelten – die eigene Versorgung im Alter ist damit noch nicht gewährleistet. Dies geschieht erst durch die Erziehung und Qualifizierung einer ausreichend großen nachwachsenden Generation. Zieht man dies in Betracht, so ist genügend Luft für die Berücksichtigung der Kindererziehung sowohl auf der Beitragsseite der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung als auch auf der Leistungsseite der gesetzlichen Rentenversicherung.

 

Für die zur Entscheidung stehenden Verfahren bedeutet dies:

Verfassungsbeschwerde 1 BvR 2824/17 (xxx)

Eine Berücksichtigung des Kinderexistenzminimums bei der Beitragsentrichtung ist über die soziale Pflegeversicherung hinaus auch in der gesetzlichen Rentenversicherung zwingend erforderlich. Die Renten werden ausschließlich von der nachwachsenden Generation finanziert – im Fall von kinderlosen Rentnern also von den Kindern anderer Leute47. Die Kindererziehungszeiten stellen gerade nicht den vom BVerfG in seinem Pflegeversicherungsurteil vom 3. April 2001 geforderten Ausgleich zwischen Eltern und Kinderlosen dar – denn sie werden von der nachwachsenden Generation bestritten. Die Freistellung des Existenzminimums von Kindern von der Beitragsbemessung zur Rentenversicherung ist sozialpolitisch erforderlich, um Kinderarmut zu bekämpfen und damit auch für die Zukunft die Grundlagen des Umlageverfahrens sicherzustellen. Die Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der Rente ist frauenpolitisch erforderlich, um die Renten insbesondere von Müttern zu erhöhen, indem die Bedeutung der Erziehung für das Funktionieren des Umlageverfahrens angemessen berücksichtigt wird.

Gleiches gilt ebenso für die Gesetzliche Krankenversicherung, wie sie in der Verfassungsbeschwerde „xxx“ (Az. 1 BvR 2257/16) überzeugend behandelt wird. Hierzu wird daran erinnert, dass der Erste Senat ausweislich des Gutachtens von Herwig Birg vom 4. Juli 2000 für die mündliche Verhandlung in den Pflegeverfahren am 10. Juli 2000 diese Frage in den Blick genommen hat. Es ist unverständlich, dass diese Frage von erheblichem materiellem Gewicht, wie sich aus dem „Niehaus“-Gutachten48 ergibt, durch die Auswahl der Verfassungsbeschwerden nicht thematisiert wird.

 

Vorlagebeschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 23. Januar 2018 1 BvL 3/18

Die verfassungsrechtlichen Bedenken des Sozialgerichts Freiburg an der Hinzuziehung von Eltern zum Aufbau eines Pflegevorsorgefonds – auf dem Wege der Erhöhung der Beiträge zur Pflegeversicherung und der anschließenden Zuführung eines nicht verbrauchten Teils der Beiträge an den Pflegevorsorgefonds – werden geteilt. Die Beteiligung von Eltern widerspricht den Grundsätzen des Pflegeversicherungsurteils des BVerfG vom 3. April 2001 elementar. Eltern tragen bereits umfassend zum Umlageverfahren bei. Zum Aufbau eines Kapitalstocks für demografisch schwierige Zeiten könnten höchstens kinderlose Beitragszahler herangezogen werden, die eine Mitverantwortung für den demografischen Wandel tragen und bei denen auch – im Vergleich zu Familien – entsprechende Einkommensüberhänge zu verzeichnen sind. Auch bei der Kapitaldeckung sind die Kinder letztlich die Garanten der Valutierung der Ansprüche: Weil nämlich die Anlagevorschriften zur Anlage in  ebenso liquide wie sichere Anlagen zwingen49, werden statt der sozialversicherten Umlageschuldner dann die – zu ca. 80 Prozent identischen – Steuerschuldner in die Pflicht genommen.

Die Entlastung auf der Beitragsseite der Pflegeversicherung muss gestaffelt pro Kind erfolgen (bereits ab dem ersten Kind und unter Berücksichtigung jedes weiteren Kindes), dies jedoch nur für die Zeit der Unterhaltsgewährung, d.h. bis zum Abschluss einer Ausbildung oder eines Studiums. Die Berücksichtigung eines Kinderfreibetrages in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung ist gerade auch mit Blick auf Mehrkindfamilien erforderlich. Die Erziehung von drei und mehr Kindern führt zu einer stärkeren Einschränkung der Leistungsfähigkeit von Eltern als die Erziehung von einem oder zwei Kindern. Der Wert der Erziehung von drei oder mehr Kindern entspricht einem größeren Beitrag für das Umlageverfahren als die Erziehung eines oder zweier Kinder.

Was das SG Freiburg völlig offengelassen hat, ist die Frage, aufgrund welchen Maßstabs eigentlich der Gesetzgeber zu der Quote von 0,25 Prozentpunkten gekommen ist, mit welcher die Elternschaft berücksichtigt wird. Diese Frage stellt sich jenseits der vom SG Freiburg dem BVerfG vorgelegten Frage auch bereits beim ersten Kind. Nirgendwo in den Gesetzesmaterialien ist indes ein Hinweis zu finden, aufgrund welcher Erwägungen der Gesetzgeber zu diesem Ergebnis kam. Eine beliebig gegriffene Größe wird der den pekuniären Beiträgen gleichstehenden generativen Beitragsleistung jedoch ersichtlich nicht gerecht und ist willkürlich.

 

Abschließende und zusammenfassende Bemerkungen

Der Familienbund der Katholiken und der Deutsche Familienverband sind der Auffassung, dass Familien in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung verfassungswidrig benachteiligt werden. Dass unterhaltspflichtige Eltern mit gleich hohen Sozialversicherungsbeiträgen belastet werden wie Personen, die keine Kinderkosten (mehr) tragen und sich damit nicht an der Vorsorge beteiligen müssen, ist ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG, da der generative Beitrag der Eltern nicht berücksichtigt wird. Die vom Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 3. April 200150 aufgestellten Voraussetzungen eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG sind in der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung ebenso erfüllt wie in der sozialen Pflegeversicherung (hier ist die Berücksichtigung des generativen Beitrages deutlich defizitär). Insoweit verweist diese Stellungnahme auf die Argumentation von Prof. Dr. Thorsten Kingreen und Dr. Jürgen Borchert in den Verfassungsbeschwerdeverfahren „xxx“ und „xxx“ und schließt sich dieser Argumentation vollumfänglich an.

Der 2005 in der sozialen Pflegeversicherung eingeführte Beitragszuschlag von 0,25 Prozentpunkten kann den 2001 vom Bundesverfassungsgericht festgestellten Verfassungsverstoß nicht beseitigen, sondern führt im Gegenteil zu weiteren Verfassungsverstößen: Zunächst ist schon der Ansatz falsch, Kinderlose stärker zu belasten, anstatt Familien gestaffelt pro Kind – und zwar bereits ab dem ersten Kind51 – zu entlasten. Denn die Gleichbehandlung aller Familien unabhängig von der Kinderzahl und des konkret erbrachten generativen Beitrags behandelt erneut wesentlich Ungleiches willkürlich gleich und verstößt damit gegen Artikel 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG. Dass Eltern vom Beitragszuschlag für Kinderlose auch dann noch befreit sind, wenn die Kinder finanziell auf eigenen Beinen stehen und keine Unterhaltspflicht der Eltern mehr besteht, stellt eine verfassungswidrige, willkürliche Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem dar. Denn Eltern ohne Unterhaltspflicht sind im ökonomischen Sinne kinderlos und daher anderen Kinderlosen gleichzustellen. Schließlich ist die Höhe des Beitragszuschlags von 0,25 Prozentpunkten willkürlich und offensichtlich zu niedrig. Dass der generative Beitrag der Eltern bei den in den letzten Jahren erfolgten Beitragserhöhungen in der sozialen Pflegeversicherung nicht berücksichtigt wurde, ist verfassungswidrig. Gegen die Verfassung verstößt insbesondere auch die Finanzierung des Pflegevorsorgefonds, da Eltern bereits mit der Pflege und Erziehung ihrer Kinder einen essentiellen Beitrag zur Abfederung des demografischen Wandels leisten. Wenn sie dennoch in gleicher Weise wie alle anderen in den aufgrund des demographischen Wandels eingerichteten Pflegevorsorgefonds einzahlen müssen, wird der generative Beitrag von Familien erneut missachtet. Als verfassungsgemäße und gleichzeitig praktikable Regelung erachten der Familienbund der Katholiken und der Deutsche Familienverband einen in der Bemessungsgrundlage für die drei streitbefangenen Systeme einzuführenden Kinderfreibetrag analog zur Höhe des gem. § 32 Abs. 6 EStG steuerfrei gestellten Kinderexistenzminimums (2018: 7.428 Euro).

In der gesetzlichen Rentenversicherung werden derzeit Eltern, die Kinder betreuen und erziehen und damit neben dem Geldbeitrag einen generativen Beitrag zur Funktionsfähigkeit eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems leisten, mit einem gleich hohen Rentenversicherungsbeitrag wie Kinderlose belastet. Dieser Verfassungsverstoß wird insbesondere auch nicht durch die rentenerhöhenden Kindererziehungs- und Kinderberücksichtigungszeiten beseitigt. Denn das Bundesverfassungsgericht hatte 2001 ausdrücklich verlangt, Eltern „während der Zeit der Betreuung und Erziehung [zu] entlasten“52. Wenn man den höchstrichterlich anerkannten generativen Beitrag als Beitrag ernst nimmt, ist es zwingend, dass sich dieser sowohl auf die Beitrags- als auch auf die Rentenhöhe (Leistungsseite) auswirkt. Dass auf der Leistungsseite der Rentenversicherung keine ausreichende Kompensation des generativen Beitrags erfolgt, zeigt insbesondere der Blick auf die Benachteiligung von Frauen in der Alterssicherung. Diese Benachteiligung von Frauen umfassend darzulegen und daraus die Notwendigkeit einer Entlastung bei den Rentenversicherungsbeiträgen abzuleiten, ist ein wichtiges Anliegen dieser Stellungnahme (siehe dazu ausführlich unter I., S. 2 ff.). Der Gender Pension Gap von durchschnittlich 46 % (unter Einbeziehung der betrieblichen und privaten Sicherung), in dem sich die geschlechtsbezogenen Benachteiligungen des Lebens aufsummieren, ist ein anschauliches Beispiel für bestehende Ungerechtigkeiten zu Lasten von Frauen. Die Stellungnahme weist darauf hin, dass den Verbesserungen bei der rentenrechtlichen Anerkennung von Kindererziehung auch massive Verschlechterungen zu Lasten von Frauen gegenüberstehen. Diese sind zum einen durch Rechtsänderungen, zum anderen durch die faktische Veränderung weiblicher Lebensverläufe eingetreten, die klassische familienbezogene Normen zur (teilweisen) Kompensation von Sorgearbeit zunehmend leerlaufen lassen. Ein Kinderfreibetrag wäre eine moderne, nicht-geschlechtsbezogene und familienformneutrale Kompensation der für die gesetzliche Rentenversicherung konstitutiven Kindererziehung. Unter Bezugnahme auf Berechnungen des Ökonomen Prof. Dr. Martin Werding (Ruhr-Universität Bochum) verweist die Stellungnahme auf den hohen Wert des generativen Beitrages, der allein für die Rentenversicherung ein Plus von durchschnittlich 77.200 Euro pro Kind bedeutet (inklusive der Effekte aller Nachfahren: 158.300 Euro).

Der Familienbund der Katholiken und der Deutsche Familienverband halten einen Kinderfreibetrag auch in der gesetzlichen Krankenversicherung für erforderlich. Es ist unverständlich, dass die gesetzliche Krankenversicherung in diesem Verfahren ausgeklammert ist, obwohl eine entsprechende Verfassungsbeschwerde („xxx“) vorliegt. Auch in der gesetzlichen Krankenversicherung entfällt der Verfassungsverstoß nicht etwa wegen bereits vorhandener Familienkomponenten wie der sog. „beitragsfreien“ Mitversicherung. Diese Mitversicherung ist nicht beitragsfrei: Tatsächlich ist das gesamte Familieneinkommen Krankenversicherungsbeiträgen unterworfen. Auch auf den Teil des Familieneinkommens, der durch Unterhaltsansprüche den nicht-erwerbstätigen Familienmitgliedern zugeordnet ist, werden Beiträge erhoben. Es wäre nicht nachvollziehbar, wenn man Familien, die ökonomisch schon dadurch benachteiligt sind, dass sie kein (volles) zweites Einkommen beziehen, zusätzliche Krankenversicherungsbeiträge auferlegen würde. Auf ein nicht-vorhandenes Einkommen können auch keine Beiträge erhoben werden. Die „beitragsfreie“ Mitversicherung ist sachgerecht, aber kein Ausgleich für den von Familien erbrachten generativen Beitrag53, dessen Ertrag ja wesentlich in den „positiven externen Effekten“ zugunsten Kinderloser besteht. Das ergibt sich im Übrigen schon daraus, dass die in der sozialen Pflegeversicherung ebenfalls bestehende „beitragsfreie“ Mitversicherung das Bundesverfassungsgericht 2001 nicht daran gehindert hat, einen Verfassungsverstoß zu Lasten von Familien festzustellen.

Ein Kinderfreibetrag in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung ist nach Auffassung des Familienbundes der Katholiken und des Deutschen Familienverbandes auch ein wesentlicher Beitrag gegen Kinder- und Familienarmut. Da die Bekämpfung der Kinderarmut ein Hauptanliegen beider Verbände ist, liegt der zweite Schwerpunkt dieser Stellungnahme auf diesem Thema (siehe dazu ausführlich unter II., S. 10 ff.). Die Stellungnahme führt aus, dass es ganz wesentlich die Sozialversicherungsbeiträge sind, die Familien arm machen und in vielen Fällen sogar unter das Existenzminimum drücken. Hier müssen Familien entlastet werden.

Da das Argument in der politischen Debatte häufig auftaucht, ist es dem Familienbund der Katholiken und dem Deutschen Familienverband wichtig, darauf hinzuweisen, dass es bei dem Anliegen der Verbände nicht um eine „Bestrafung“ Kinderloser geht, sondern um eine gerechte Entlastung von Familien mit jüngeren Kindern, die einen kostenaufwendigen und geldwerten Beitrag für die umlagefinanzierte Sozialversicherung erbringen. Die Differenzierung soll allein aufgrund dieses unterschiedlichen generativen Beitrags erfolgen, dessen Spiegelbild die unterschiedliche finanzielle Leistungsfähigkeit von Familien und Kinderlosen ist. Deswegen ist Kinderlosigkeit – mit dem Bundesverfassungsgericht54 – als lebensphasenbezogener, sozialökonomischer (keineswegs „biologistischer“) Begriff zu verstehen: Kinderlos sind alle, die gegenwärtig keine Kosten für Kinder tragen müssen – also auch Eltern mit erwachsenen und finanziell selbständigen Kindern. Den Kinderfreibetrag in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung sollen daher nur die Eltern in Anspruch nehmen können, die noch zum Unterhalt ihrer Kinder verpflichtet sind. Nach diesem Verständnis ist also jeder Mensch die meiste Zeit seines Lebens (im ökonomischen Sinne) kinderlos. Für Menschen mit Kindern bedeutet der Vorschlag eines Kinderfreibetrages in der Sozialversicherung eine Umverteilung im eigenen Lebensverlauf: Man zahlt in der aktiven Familienphase weniger Sozialversicherungsbeiträge und dafür später – wenn man wieder leistungsfähiger ist – mehr. Insgesamt findet ein Ausgleich zwischen Kinderlosen und Familien mit unterhaltsberechtigten Kindern statt, der dringend erforderlich und gerecht ist. Durch einen Kinderfreibetrag in der Sozialversicherung würden Familien nicht finanziell besser stehen als Kinderlose. Es würde lediglich vermieden, dass Familien deutlich schlechter stehen. Eine „Spaltung der Gesellschaft in Familien und Kinderlose“ würde ein Kinderfreibetrag in der Sozialversicherung also nicht befördern. Ganz im Gegenteil würde er einer bereits bestehenden gesellschaftlichen Spaltung entgegenwirken. Das Ungleichgewicht zwischen Familien und Kinderlosen als Marktteilnehmer würde sich verringern, weil Familien dann ökonomisch etwas besser mit Kinderlosen mithalten könnten. Gegenwärtig werden Eltern mit mehreren Kindern auf allen Märkten – insbesondere auch auf dem Wohnungsmarkt – von Paaren ohne Kinder abgehängt. Die Arbeitslöhne berücksichtigen nicht, wie viele Personen von ihnen zu ernähren sind. Auf der Ebene der Sozialabgaben wird diese Schieflage nicht korrigiert. Eine familiengerechte Gesellschaft sieht anders aus55. Ohne Kinder sind nicht nur unsere Sozialsysteme, sondern unsere ganze Gesellschaft nicht zukunftsfähig.

 

Berlin, den 29. November 2018

Ulrich Hoffmann, Präsident Familienbund der Katholiken
Dr. Klaus Zeh, Präsident Deutscher Familienverband
Prof. Dr. jur. Anne Lenze, Hochschule Darmstadt

 

 

1Verfassungsbeschwerde der Eheleute xxx vom 24. März 2016 (1 BvR 2257/16), als Anlage 6 der Verfassungsbeschwerde der Eheleute xxx vom 13. Dezember 2017 angefügt.

2Das BVerfG hat einen in dieser Richtung argumentierenden Vorlagebeschluss des Sozialgerichts Mannheim wegen unzureichender Begründung abgelehnt. Das Sozialgericht hatte die Gesamtleistungsbewertung der §§ 71 - 73 SGB VI als mittelbare Diskriminierung von Frauen angesehen, weil die Bewertung der sozialen Ausgleichsbestimmungen umso höher sei, je höher die Beiträge im Durchschnitt des jeweiligen Versicherungsverlaufes seien (BVerfGE, 1 BvL 18/98 vom 20.4.2000, Absatz-Nr. 13 ff., http:/www.bverfg.de/).

3Frommert/ Heien/ Loose, Auswirkungen von Kindererziehung auf Erwerbsbiographien und Alterseinkommen von Frauen, WSI Mitteilungen 5/2013, S. 338.

4BMAS, Ergänzender Bericht der Bundesregierung zum Rentenversicherungsbericht 2016 gemäß § 154 Abs. 2 SGB VI (Alterssicherungsbericht 2016), S. 97.

5WSI-Verteilungsbericht, 2018, S. 48 ff.

6Vgl. Lenze, Staatsbürgerversicherung und Verfassung, 2005, S. 79 ff.

7Alterssicherungsbericht 2017, S. 96.

8So bereits: Statistisches Bundesamt, Leben und Arbeiten in Deutschland – Mikrozensus 2004, S. 42. Auf Nachfrage wurde dieser Befund mit den Daten des Mikrozensus 2015 abgeglichen. Der Aufholprozess der kinderlosen Frauen hat sich – erwartungsgemäß – gegenüber 2004 noch weiter verstärkt. Vgl. auch Statistisches Bundesamt, Informationen zum Mikrozensus 2017 (Stand: 17. April 2018).

9Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass der Wert der Kindererziehungszeiten individuell sehr unterschiedlich ausfällt, je nach Erwerbskonstellation (vgl. hierzu den Vorlagebeschluss des SG Neubrandenburg vom 12.1.2012 – Az. S 4 RA 152/03 und 1 BvL 6/12 – sowie Schmähl/Rothgang/Viebrock, Berücksichtigung von Familienleistungen in der Alterssicherung, 2006, S. 47).

10Statistisches Bundesamt, Alleinerziehende in Deutschland 2017, 2018, S. 39 ff.

11Im Übrigen werden die Rentenanwartschaften für Mütter auch für die angerechneten Kindererziehungszeiten von den demografisch bedingten Abwertungen in gleicher Weise wie die allgemeinen Rentenanwartschaften betroffen, obwohl Eltern hierfür am wenigsten verantwortlich sind.

12Vgl. Lenze, Das neue Unterhaltsrecht aus sozialrechtlicher Perspektive, in: FamRZ 2009, S. 1724 ff.

13Bredtmann/Vonnahme: Less Alimony after Divorce – Spouses’ Behavioral Response to the 2008 Alimony Reform in Germany, 2017.

14Insgesamt ergibt sich für ein durchschnittliches Kind ein Überschuss aller von ihm geleisteten Sozialversicherungsbeiträge und Steuern über die von ihm in Anspruch genommenen Geld- und Sachleistungen in Höhe von 50.500 € (inklusive der Effekte aller Nachfahren: 103.400 €). Werding, Familien in der gesetzlichen Rentenversicherung: Das Umlageverfahren auf dem Prüfstand, 2014, S. 9.

15Vgl. hierzu: Vorlagebeschluss Neubrandenburg vom 12.1.2012, Az. S 4 RA 152/03 und 1 BvL 6/12. Ebenso: Schmähl/Rothgang/Viebrock, Berücksichtigung von Familienleistungen in der Alterssicherung, 2006, passim.

16Vgl. hierzu: Lenze, Was von der Frauenfrage bleibt. Vom exklusiven Gleichberechtigungsgrundsatz zum allgemeinen Gleichheitssatz, in: Kritische Justiz 2006, S. 269, 279 ff.

17§§ 68 I und 97 II SGB VI.

18Bernd von Maydell, Zur Frage der Systemgerechtigkeit des Anrechnungsmodells, in: DRV 1985, S. 35. Christine Fuchsloch, Es war einmal – Chancengleichheit und Arbeitsmarktpolitik, in: Streit 2003, S. 99. Jürgen Borchert, Die Berücksichtigung familiärer Kindererziehung im Recht der Rentenversicherung, 1981, S. 179 ff.

19Fast gleichzeitig hatte das Haushaltsbegleitgesetz 1984 die Möglichkeit für Frauen, eine Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente zu beziehen, erheblich eingeschränkt. Durch das zusätzlich eingeführte Erfordernis, innerhalb der letzten 5 Jahre vor Eintritt des Versicherungsfalls mindestens 36 Monate an versicherungspflichtiger Beschäftigung nachzuweisen, fielen fortan jene Frauen aus dem Leistungsbezug heraus, die nach einer Familienphase aus gesundheitlichen Gründen keine Erwerbsarbeit mehr aufnehmen konnten. 56% aller Frauen, die nach der alten Regelung noch eine Invalidenrente bezogen hätten, waren danach vom Rentenbezug ausgeschlossen (BVerfGE 75, S. 78, 101).

20BVerfGE 74, S. 163 ff.

21Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (RRG 1992).

22Veil, Verliererinnen und Gewinnerinnen der Rentenreform 1992, in: Mechtild Veil u.a. (Hrsg.), Am modernen Frauenleben vorbei: Verliererinnen und Gewinnerinnen der Rentenreform 1992, Berlin, 1992, edition sigma, S. 43–163.

23Schmähl, Rothgang, Viebrock, Berücksichtigung von Familienleistungen in der Alterssicherung, 2005, S. 43 f.

24§ 7 SGB V, § 8 SGB IV.

25Niehaus, Familienlastenausgleich in der Gesetzlichen Krankenversicherung. Die „beitragsfreie Mitversicherung“ auf dem Prüfstand, 2012, S. 14.

26BVerfGE 82, 60 ff.

27BVerfGE 99, S. 216 ff.

28BVerfGE 103, S. 242 ff.

29Sibylle Raasch, Familienschutz und Gleichberechtigung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Streit 2002, S. 51, 55.

30Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Fragestunde des Deutschen Bundestages am 25. April 2018, BT-Drucksache 19/1762, Fragen Nr. 19 und 20.

31Kerstin Bruckmeier, Johannes Eggs, Carina Sperber, Mark Trappmann, Ulrich Walwei, Arbeitsmarktsituation von Aufstockern: Vor allem Minijobber suchen nach einer anderen Arbeit. IAB-Kurzbericht 19/2015, S. 3.

32Vgl. insbes. zur Schnittstelle zum Steuerrecht sowie zur Abgaben- und Steuerbelastung der Alleinerziehenden im internationalen Vergleich: Lenze, Alleinerziehende unter Druck. Rechtliche Rahmenbedingungen, finanzielle Lage und Reformbedarf, 2014, S. 49 ff.

33Die durchschnittliche Rentenbezugsdauer hat sich seit 1960 fast verdoppelt: Sie ist in Westdeutschland bei Männern von 9,6 Jahren 1960 auf 17,3 Jahre 2007 angestiegen; bei den westdeutschen Frauen erhöhte sie sich von 10,6 Jahren 1960 auf 20,8 Jahre 2014, vgl. Deutsche Rentenversicherung, Rentenversicherung in Zahlen, 2015, S. 67.

34Lenze, Auf ein Neues: Beitragsgerechtigkeit in der Sozialversicherung, in: SGb 2017, S. 130 ff.

35Vgl. Deutscher Familienverband, Horizontaler Vergleich, Publikation vom 20.03.2018, https://www.deutscher-familienverband.de/publikationen/fachinformationen/category/2-publikationen; Familienbund Freiburg, Was am Monatsende "übrig" bleibt - Horizontaler Vergleich, https://www.familienbund-freiburg.de/html/media/was_am_monatsende_uebrig_bleibt_horizontaler_vergleich.html.

36BVerfGE 103, S. 242, 270.

37Ein solcher Vorschlag wurde vor 30 Jahren von dem Gewerkschafter Alfred Schmidt angeführt (DAngVers 1988, S. 488 ff.). Dieser Vorschlag entspricht im Wesentlichen dem zweiten Generationenvertrag zwischen der Erwerbs- und der Kindergeneration im „Schreiberplan“ von 1955.

38Eine vorsichtige Schätzung geht davon aus, dass Familien zu 43,1 % alle öffentlichen Aufwendungen über ihre eigenen Abgaben selber tragen: Frank Kupferschmidt, Umverteilung und Familienpolitik, 2007, S. 207. Eine aktuellere Berechnung kommt auf 67,5 %, vgl. Martin Werding, in: Stellungnahme zur Verfassungsbeschwerde – Az. 1 BvR 2824/17 – vom 7.12.2017. Auch der 5. Familienbericht der Bundesregierung („Familien und Familienpolitik im geeinten Deutschland – Zukunft des Humanvermögens“, BT-Drucks. 12/7560) verweist auf „Beeinträchtigungen des Familienlastenausgleichs durch hohe Selbstfinanzierungsanteile“ der Familien, insbesondere auch in der Sozialversicherung, vgl. 5. Familienbericht, S. 295.

39Vgl. die Leistungsverbesserungen für Pflegebedürftige und die anhaltende Diskussion um eine Anhebung der Löhne für Pflegekräfte und die damit verbundene Erhöhung der Beiträge zur Pflegeversicherung.

40Vgl. die Verbesserungen im Bereich der Anrechnung von Einkommen und Vermögen bei der Verabschiedung des BTHG.

41Claudia Laubstein, Gerda Holz, Jörg Dittmann, Evelyn Sthamer, Von alleine wächst sich nichts aus, 2012, S. 217.

42Laubstein, Holz, Seddig, Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche. Erkenntnisse aus empirischen Studien in Deutschland, 2016, S. 62.

43Tophoven, Lietzmann, Reiter, Wenzig, Aufwachsen in Armutslagen. Zentrale Einflussfaktoren und Folgen für die soziale Teilhabe, 2018, S. 73 f.

44Hartmann, Unterhaltsansprüche und deren Wirklichkeit, SOEPpapers 660-2014, S. 8.

45Vgl. hierzu den Vorschlag des dualen Rentensystems von Borchert, Die Berücksichtigung familiärer Kindererziehung im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung, 1981, S. 229 ff. Danach würden sich die monetär durch Beitragszahlungen erworbenen Ansprüche an die GRV halbieren und es käme ein Elternrentensystem hinzu. Die Hälfte der von einem Beitragszahler durchschnittlich eingezahlten Rentenbeiträge würde auf das Rentenkonto von Eltern fließen, während die andere Hälfte zur Finanzierung des Barbeitragssystems verwandt würde.

46So heißt es in der Entscheidung: Im Hinblick auf die besonderen Bedingungen des Alterssicherungssystems der DDR komme daher der Eigentumsschutz auch dann zum Tragen, wenn die Rentenansprüche und -anwartschaften nicht in erster Linie durch Beitragszahlungen, sondern maßgeblich durch Arbeitsleistung erworben worden seien (BVerfGE 100, S. 1, 34 ff.).

47Vgl. zum Wert von Kindern für die GRV: Werding, Familien in der gesetzlichen Rentenversicherung. Das Umlageverfahren auf dem Prüfstand, 2014.

48Niehaus, Familienlastenausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung? (2013).

49Vgl. BSG, Urteil vom 03. März 2009 – B 1 A 1/08 R –, BSGE 102, 281-290, SozR 4-2500 § 222 Nr. 1.

1 BvR 1629/94.

So auch ausdrücklich das BVerfG, vgl. Urteil des Ersten Senats vom 3. April 2001 - 1 BvR 1629/94, Rn. 73.

BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 3. April 2001 - 1 BvR 1629/94.

Vgl. auch Niehaus, Familienlastenausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung? (2013), S. 6 f.

Das BVerfG knüpft an die Unterhaltspflicht an, vgl. Urteil des Ersten Senats vom 3. April 2001 - 1 BvR 1629/94, Rn. 73.

Die von den wissenschaftlichen Autoren des 5. Familienberichts der Bundesregierung 1994 („Familien und Familienpolitik im geeinten Deutschland – Zukunft des Humanvermögens“, BT-Drucks. 12/7560) festgestellte „strukturelle Rücksichtslosigkeit“ der bundesrepublikanischen Gesellschaft gegenüber Familien (vgl. S. 21 ff.) besteht zu einem wesentlichen Teil in der sozialversicherungsrechtlichen Behandlung der Kinderziehung. Der 5. Familienbericht verweist auf den in der Kinderbetreuung sowie der Kranken- und Behindertenpflege liegenden „erheblichen Beitrag zur Generationen- und Geschlechtersolidarität in den Familien“, der aber nicht zu einer „leistungsgerechten, gesellschaftlichen Anerkennung“ führe, vgl. S. 28. Er führt weiter aus, dass die Familien aufgrund der undifferenzierten Beitragserhebung die ehe- und familienbezogenen Leistungen der Sozialversicherung mitfinanzierten, was den Familienlastenausgleich beeinträchtige, vgl. S. 295.