Politik für gutes Leben – ein Statement zur Bedeutung der Zeitpolitik
In einer Gesellschaft zunehmender Atemlosigkeit und Beschleunigung streben wir zunehmend danach, der allgegenwärtigen Zeitknappheit etwas entgegenzusetzen und das bewusste Erleben von Zeit zu ermöglichen. So verstanden, ist Zeitpolitik heute die Politik vom guten Leben. Zeitpolitik kann persönliches Glück und gelingende Beziehungen nicht herstellen, sie kann aber die Voraussetzungen dafür schaffen: Indem sie zeitliche Freiräume eröffnet, in denen sich Beziehungen entwickeln können – zu Familie, Freunden, Kolleginnen und Kollegen, aber auch zu Arbeit, Kunst, Religion und sich selbst.
Die Dimensionen der Zeitpolitik sind gerechte Verteilung und Freiheit. Da Zeit ein begrenztes Gut ist, ist Zeitpolitik immer auch Verteilungspolitik. Zeit muss politisch so verteilt werden, dass alles zu seinem Recht kommt und jede Aufgabe ihre Zeit hat. In der Familienpolitik geht es vor allem um ausreichend Zeit für Familie und die geschlechtergerechte Aufteilung von Familien- und Erwerbsarbeit. In ihrem Bemühen um eine gerechte Verteilung von Zeit kann Zeitpolitik aber auch neue zeitliche Korsette und Belastungen schaffen, die der subjektiven Vorstellung vom guten Leben zuwiderlaufen. Zeitpolitik muss der Versuchung widerstehen, für alle festlegen zu wollen, wie Zeit verteilt werden sollte. Sonst ersetzt sie lediglich eine Normbiografie durch eine andere und schafft neue Ungerechtigkeiten und Unzufriedenheit.
Kritisch zu sehen sind daher zeitpolitische Konzepte, die nur bestimmte Familienmodelle herausgreifen und besonders fördern wollen. Politisch diskutiert wird unter dem Namen einer „Familienarbeitszeit“ der Vorschlag, die doppelte vollzeitnahe Erwerbstätigkeit der Eltern durch eine zusätzliche Geldleistung zu fördern. Gerechter sind demgegenüber Vorschläge einer Ausweitung und Flexibilisierung des Elterngeldes für alle Familien. Es ist zudem wichtig, nicht nur die Familienphase mit kleinen Kindern, sondern den gesamten Lebensverlauf von Familien in den Blick zu nehmen. Hier ist die Reform der Familienpflegezeit und die Einführung einer Lohnersatzleistung für pflegende Angehörige ein wichtiges Projekt des aktuellen Koalitionsvertrages.
Moderne Zeitpolitik sollte auf Freiheit setzen. Sie sollte an die individuellen Wünsche anknüpfen und Optionen einräumen. Sie sollte Freiräume ermöglichen, nicht vorschreiben und begrenzen. Alle sollten Familie und Beruf, Ehrenamt und Engagement, Zeit für sich und für andere in die zum jeweils aktuellen Zeitpunkt richtige Balance bringen können. Das Bild vom „atmenden Lebenslauf“ bringt passend zum Ausdruck, wie der Wechsel dieser Lebensdimensionen idealerweise aussehen könnte: Frei und fließend, mal schneller und mal langsamer, mal gleichmäßiger und mal Schwerpunkte setzend. Und auch mal tief Luft holend und innehaltend ... Und vor allem: in Abstimmung mit nahestehenden und geliebten Menschen. In diesem Sinne ist Zeitpolitik die Grundlage jedweder Familienpolitik.
Matthias Dantlgraber, Bundesgeschäftsführer des Familienbundes der Katholiken
eine gekürzte Fassung des Textes ist zunächst erschienen in: Zeitpolitisches Magazin, Dezember 2022, Jahrgang 19, Ausgabe 41